Zeitgenössische oder traditionelle Kunst?

Während sich indigene australische Kunst in den Sammlungen aller großen Kunstmuseen Australiens befindet und ausgestellt wird, ist es in Deutschland noch immer schwer, Museen oder Kunstvereine zu überzeugen, diese Kunst zu zeigen. Sehr oft wird von Kunsthistorikern argumentiert, es handele sich um Exponate, die ihren Platz besser in den Völkerkundemuseen fänden.

Traurige Geschichte schrieb in diesem Zusammenhang die Art Cologne 1994:
1993 bewarb sich die Gallery Pizzi aus Melbourne, die auf indigene australische Kunst spezialisiert ist, um die Teilnahme an der Art Cologne und wurde akzeptiert. Im folgenden Jahr bewarb sie sich erneut – und sollte nicht teilnehmen dürfen. Die Jury der Messe, nach eigenen Angaben bestehend aus "hervorragenden Museumsleuten und progressiven Galeristen", urteilte über die Ausstellung der Gallery Pizzi im Jahr 1993 und schrieb ihr in einem Brief:

"Nach Prüfung aller Gesichtspunkte Ihrer Bewerbung mußten wir auf Ihre Auswahl für die Art Cologne 1994 verzichten, weil Sie nach Ansicht der Jury des Jahres 1993 nicht authentische Aboriginal Kunst zeigen, sondern zeitgenössische Kunst von Künstlern, die lediglich der Tradition folgen. Wie Ihnen bekannt ist, und wie Sie aus den Bewerbungsunterlagen ersehen, wird Volkskunst nicht zur Art Cologne zugelassen." (1)

Es gab einen kleinen Aufschrei in Deutschland und einen großen in Australien, wo diese Entscheidung in Richtung rassistischer Kulturpolitik gerückt wurde. Während einer Diskussionsrunde, die im Westdeutschen Rundfunk übertragen wurde, zog Lin Onus einen treffenden Vergleich, um zu charakterisieren, in welche Ecke die deutsche Kunstprofession indigene Kunst stellte: Die Jury der Art Cologne vergleiche indigene Kunst mit den Kuckucksuhren des Schwarzwalds.

Die Gallery Pizzi wurde nach den Protesten in Australien 1994 nochmals zur Art Cologne zugelassen; 1995 schließlich wurde ihr vorgeschrieben, dass sie nur Werke städtischer Künstler zeigen dürfe, woraufhin sie ihre Bewerbung auf Teilnahme zurückzog. Gleichzeitig änderte die Art Cologne ihre Statuten dahingehend, dass Ethnographica – eine vornehme Umschreibung für Volkskunst – zukünftig nicht zugelassen werden. 1993, als die Gallery Pizzi ohne Probleme an der Art Cologne teilnehmen durfte, war das von der UNO ausgerufene Jahr der indigenen Völker.

Lüthi, B. (Hg.): Aratjara. Kunst der ersten Australier, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, DuMont, Köln 1993, Ausst. Kat., ISBN 3926154160Dieser für die Kunsthistorik peinliche Vorfall geschah nach der ersten großen Ausstellung in Deutschland mit indigener Kunst in Kunstmuseen, nämlich nach “Aratjara“ (24.04 bis 04.07.1993) in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, zu der ein äußerst umfangreicher Katalog erschien. Die Jury der Art Cologne sowie alle, die es wollten, konnten sich leicht Kenntnisse über indigene australische Kunst verschaffen. 1995 folgte die Ausstellung “Eine Reise zu den großen Dingen“ (08.03 bis 30.04) im Sprengel Museum in Hannover, einem der in Deutschland führenden Museen für moderne Kunst, die ebenfalls von einem informativen Katalog begleitet wurde. (2) Die Art Cologne hätte in Kenntnis beider Ausstellungen und Kataloge ihre Statuten nicht ändern dürfen.

Es wird auch in Deutschland eine Zeit kommen, in der diese Geschichte einmal belacht werden und sich in eine Petitesse wandeln wird. Bis heute aber ist die Auseinandersetzung um die Anerkennung indigener Kunst als Kunst in Deutschland nicht ausgestanden.

Gehören die Werke indigener Künstler also nicht zur Kunst? Es existieren unzählige Definitionen, was Kunst ist. Die Kunsthistorik kennt heute keine eindeutigen Kriterien, was zur Kunst zählt und was ihr nicht zuzuordnen ist. Insbesondere seit dem "Fontaine" von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1917 ist diese Frage Gegenstand des Diskurses und bisher unbeantwortet. Kunst ist wandelbar wie die Welt selbst, und sie bewegt sich auf vielen Feldern: dem der Vermittlung von Inhalten oder der Reaktion auf Vorgänge und Ereignisse, sie bewegt sich auf dem Feld der Wahrnehmung, der Intuition, der Emotionen und natürlich dem der Ästhetik.

Der fast ausschließliche Verweis der indigenen Kunst in die Völkerkundemuseen ist ein Irrtum, denn der Zugang zu dieser Kunst für ein hiesiges Publikum findet zunächst einmal über die Ästhetik statt. Auch wenn sich immer die Frage nach der Bedeutung eines Kunstwerks stellt, so ist dem Verstehen doch das Sehen vorgeschaltet. Es kommt nicht nur auf das Verstehen und das Wissen um die Inhalte von Kunstwerken an. Denn Kunst besteht aus beidem, aus Inhalt und aus Farbe, Form, Proportion, Licht etc. Beide Seiten sind wichtig, verlangen beachtet zu werden und zeichnen Werke als Kunst aus und nicht als völkerkundliche Exponate. Käme es nur auf die Inhalte an, müssten sich die Künstler nicht um Änderungen in ihren Bildfindungen kümmern, und die Werke verkümmerten zu Stereotypen. Das Sinnliche ginge verloren, und es ist fraglich, ob Kunst, die die Emotion und die Ästhetik vernachlässigt, noch als Kunst zu betrachten ist.

Viele der indigenen Künstler, die in den Weiten des Landes oder in Arnhem Land und auf den nördlichen Inseln leben, feiern nach wie vor ihre Religion und vermitteln die mythologischen Geschichten als Historie oder Regeln für das Zusammenleben. Sie feiern und vermitteln also etwas, was sie heute, in der heutigen Zeit leben. Dass sich die Feiern und Regeln ändern können, ist den Änderungen jeglichen Lebens geschuldet, denn selbstverständlich leben die indigenen Bewohner nicht isoliert.

Bernhard Lüthi, selbst Künstler und Kurator von "Aratjara", schreibt:

"Bei Lichte betrachtet, steht die Strategie der Art Cologne auf tönernen Füßen: sie widerspricht sich selbst. Zeitgenössische Kunst, die der 'Tradition' folgt, ist a priori 'authentisch', insbesondere dann, wenn sie von legitimen Nachfahren einer kontinuierlich weiterbestehenden Gemeinschaft gefertigt wird. 'Authentizität' und 'Tradition' sind nicht in Zeit und Raum festgefrorene Begriffe.

Alle Kulturen verändern sich unabhängig von ihrer geographischen Zuordnung gemäß ihrer eigenen oder entsprechend der von außen an sie herangetragenen Realität. Das Geschehen einer Kultur ist solange der Zeitgenossenschaft einer bestimmten Zeit zuzuordnen, bis sie, wiederum vom Wandel und vom Kontinuum der Zeit zwangsläufig in die Historie verdrängt, erneut zu einer 'Tradition' im Wandel geschichtlicher Veränderung wird.

Mit der alleinigen Einforderung der Rückbesinnung auf 'Tradition' bewegen wir uns auf flüchtigem Grund. 'Tradition' ist ein zeithistorisch unendlicher Begriff. Sie definiert sich im Laufe historisch und gesellschaftlich bedingter Veränderung kontinuierlich neu. Wir sind im Prozess der Innovation gefangen - und damit auch im Paradoxon des Begriffs 'Tradition'. Somit relativiert sich 'Tradition' zu einer unpräzisen Definition einer idealisierten Zeit." (3)

So ist also die Verwendung des Begriffs Tradition problematisch, weil er den Nichtwandel impliziert.

Manche europäischen Gegenwartskünstler verwenden in ihren Arbeiten das Symbol des christlichen Kreuzes. Das ist für die Kunstgeschichtsschreibung kein Grund, diese Werke als traditionelle zu bezeichnen. Denn die Künstler interpretiert das Symbol in Bezug auf das heutige Leben. Bei aller konzeptionellen Verschiedenheit der indigenen Kunst von westeuropäischer ist es nicht legitim zu behaupten, die heutige Verwendung historischer Symbole führe in der westlich-europäisch orientierten Kunst zu zeitgenössischer, in der indigenen aber zu sog. traditioneller Kunst. Ebenso wie hiesige Künstler das Kreuz verwenden können, ohne als tranditionell eingestuft zu werden, kann ein indigener Künstler alte Symbole verwenden, ohne traditionell zu sein.

Seit Beginn der Kunstbewegung in den 1970er Jahren arbeiten die Künstler Zentral- und Nordaustraliens für die Öffentlichkeit. Die entstandenen Werke wurden nie für einen anderen Zweck als der Vermittlung von Kunst und Kultur gearbeitet. Sie reflektieren nicht die Vergangenheit, sonderen die heutige, die heute gelebte Kultur. Es sind keine religiösen Objekte, und sie unterscheiden sich von der sakralen Kunst durch neue ästhetische und innovative Elemente.

Anmerkungen

(1) Brief vom 19. Mai 1994, zit. nach Lüthi, Bernhard: Terra Incognita? Europa, die Kunstgeschichte und die Kunst Aboriginal Australiens, in: Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene, 2. Aufl., Speyer 2002, Ausst. Kat., S. 81. Siehe auch John McDonald: A Snub For Aboriginal Art, in: Sydney Morning Herald, 5. August 1994, (http://www.kooriweb.org/foley/resources/art/smh5aug94.html gesehen am 01.07.2012).

(2) Lüthi, B. (Hg.): Aratjara. Kunst der ersten Australier, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, DuMont, Köln 1993, Ausst. Kat.
Brody, Anne, Krempel, Ulrich und Bähr, Elisabeth (Hg.): Stories. Eine Reise zu den großen Dingen. Elf Künstler der australischen Aborigines, Sprengel Museum, Hannover 1995, Ausst. Kat.

(3) Lüthi, Bernhard: Terra Incognita? Europa, die Kunstgeschichte und die Kunst Aboriginal Australiens, in: Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene, 2. Aufl., Speyer 2002, Ausst. Kat., S. 92f