Rezension von Büchern
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McLean, Ian: Double Nation - A History of Australian Art, Reaktion Books, London 2023, ISBN 9781789146974.
'Double Nation' ist weder ein Buch nur über Geschichte noch eines nur über australische Kunst (mit 149 Illustrationen). Es geht um die Verflechtung beider Bereiche mit Themen des britischen Empires, der Wirtschaft und der Politik, um all ihre Rollen bei der Konstruktion der Idee der Nation innerhalb des politischen Gemeinwesens des australischen Kontinents zu analysieren (das man grob als 'jeder, der auf terra nullius lebt' definieren könnte). In gewissem Sinne wird die Kunst also als Instrument der Politik analysiert.
Die Schaffung einer gemeinsamen Nationalität, die die unzähligen Unterschiede zwischen den Menschen, von denen die meisten Fremde sind, überwindet, ist die große Errungenschaft und notwendige Bedingung des Nationalstaates. Daraus leitet sich seine Legitimität ab, die ihn z.B. von religiösen und dynastischen Staaten unterscheidet. Öffentliche Einrichtungen wie nationale Kunstmuseen und Akademien sind ein wichtiges Mittel, mit dem der Staat seine Nationalität schafft. [1]
Welcher Faden der rote im Geflecht des Buches ist, lässt sich nicht sagen. Welcher politischen Gemeinwesens genau gemeint ist, ist ebenfalls unbestimmt, da ein Großteil des Buches betont, wie die britischen Siedler jeden Trick in allen Fäden dieses Geflechts anwandten, um die indigenen Völker Australiens zu verleugnen, auszugrenzen oder auszurotten - letztlich erfolglos. Welche Periode der Geschichte McLean meint, ist etwas besser definiert:
Empire, 1770-1916: Britisch-australische Kunst während der Kolonialherrschaft.
Kunstkriege, 1916-45: der erbitterte Kampf um die Definition einer nationalen Kunst, der in den 1920er und '30er Jahren ausbrach.
Nation, nach 1945: Die Apotheose der australischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre Niedergang ab Mitte der 1960er Jahre.
... obwohl er (oder sein Verleger) es sich nicht verkneifen konnte, ein Nachwort einzufügen, in dem er auf die Entwicklungen bis in die 1990er Jahre eingeht, insbesondere auf das Abflauen des Nationalismus und die wachsende Akzeptanz/Wertschätzung der zeitgenössischen indigenen Kunst. Für weitaus mehr Details über diesen Zeitraum empfiehlt McLean eines seiner anderen Bücher, 'Rattling Spears'. [2]
Das Buch 'Double Nation' könnte als philosophische Abhandlung betrachtet werden, da sowohl Epistemologie als auch Metaphysik, Logik, Ethik, Ästhetik und Politik alle eine Rolle spielen. Es ist jedoch eine sehr praktische Philosophie, beinah ein 'Who done it?' Detektivroman, in dem Beweise gesammelt werden, um herauszufinden, wer oder was für den aktuellen Zustand der Kunst in Australien verantwortlich ist. Die wichtigsten Beweise sind die Kunstwerke; die Hauptverdächtigen sind die Künstler und ihre Förderer (Politiker, vermögende Schichten, einflussreiche Institutionen).
Die Bedeutung von 'Double' im Buchtitel ist mehrfach definiert. Eine Bedeutung ist, dass die Kunstgeschichte Australiens geteilt ist, verdoppelt durch das Vorhandensein sowohl der Kunstgeschichte der Siedler als auch der Kunstgeschichte der Indigener. [3] Eine andere Bedeutung ist, dass die Geschichte der Nation (zumindest) zwei Seiten hat, die miteinander interagieren und die Komplexität beider Seiten 'verdoppeln'. Eine dritte Bedeutung bezieht sich auf OrwellsDoppeldenk, das es kosmopolitischen weißen Australiern [4] erlaubte (und erlaubt), die Kunstwerke indigener KünstlerInnen zu kaufen, ohne allzu sehr über den historischen Völkermord oder die heutige Armut nachzudenken. Eine vierte Bedeutung liegt in der Dekonstruktion der australischen Kunstgeschichte, wobei die Spannung zwischen den Konzepten (weiß/schwarz, Kolonisator/Kolonisierte*r, eurozentrisch/jukurrpa-basiert, kapitalistisch/selbstversorgend) Bedeutung schafft. McLean erläuterte dies während einer Diskussionsrunde am 30. August 2023 in Perth, Australien:
Wer sich in der zeitgenössischen Theorie auskennt, wird dies als Derridas Definition der Dekonstruktion erkennen. Weil dies meine Motivation war, Double Nation zu schreiben, habe ich es als eine Dekonstruktion der nationalen Tradition der australischen Kunst geschrieben. Glücklicherweise gab es einen klassischen Text, den ich dekonstruieren konnte: Bernard Smith's 'Australische Malerei' (1962, 1970, 2001) [5]. Es handelt sich um ein nationales Narrativ der Siedler, weil es erstens die Gründung Australiens als weiße Nation mit einer durch die Rechtsdoktrin der terra nullius garantierten Souveränität bestätigte und zweitens versuchte, das provinzielle Erbe der kolonialen Ursprünge der Siedler zu überwinden, indem es die indigene Kultur ignorierte und sich auf die Beziehung zwischen der in Australien geschaffenen europäischen Kunst und ihren Quellen in europäischen Traditionen konzentrierte. Dieser Ausschluss der indigenen Präsenz wurde als Blindheit bezeichnet, was Smith 1980 auch zugab. Doch Smith war sich der indigenen Kunst immer bewusst, ja er bewunderte sie. Aber indem er ihr keinen Platz in seiner Beschreibung einräumte, eliminierte er sie aus seinem Diskurs, was das Gebot des Siedlerkolonialismus ist. [6]
Über Fragen der reinen Politik oder der reinen Ästhetik hinaus untersucht McLean die historischen und wirtschaftlichen Trends, die das Schaffen, die Wertschätzung und die Valorisierung von Kunst in Australien und in Bezug auf das britische Imperium beeinflussten oder einschränkten. Das Buch ist komplex, verschachtelt, mit Anekdoten und historischen Ironien gewürzt, verlockend illustriert und anspruchsvoll. Und die Argumentation im Buch ist gefährlich gut: Der Gelegenheitsleser läuft Gefahr, einen post hoc ergo propter hoc-Irrtum aufzusitzen, einfach weil der Köder am Haken so lecker ist. Caveat lector!
Wer also sollte dieses Buch lesen? Offen gesagt, es gibt (irgendwo) für jeden etwas. Studierende und Kunsthistoriker*innen, die Lücken in ihrem Wissen füllen oder über verschiedene Interpretationen ihres gewählten Fachgebiets nachdenken wollen, sollten es lesen. Diejenigen, die regelmäßig australische Kunstmuseen besuchen und sich fragen, wie/warum einige der Dinge dort hängen, warden Genuss an der Lektüre haben.
Professor Ian McLean, der kürzlich emeritiert ist, hat zahlreiche Publikationen zum Thema australische Kunst, insbesondere indigene und zeitgenössische Kunst, veröffentlicht. Zu seinen Büchern gehören Indigenous Archives: The Making and Unmaking of Aboriginal Art
, zusammen mit Darren Jorgensen (2017); Rattling Spears: A History of Indigenous Australian Art
(2016); Double Desire: Transculturation and Indigenous Art
(2014); How Aborigines Invented the Idea of Contemporary Art
(2011); White Aborigines: Identity Politics in Australian Art
(1998); und The Art of Gordon Bennett
(1996).
P.S.
Die erste Ironie, die mir in dem Buch auffiel, bevor ich auch nur das erste Wort gelesen hatte, war das merkwürdige Bild eines Kängurus gegenüber der ersten Seite der Einleitung. Mit dem Untertitel 'George Stubbs, The Kongouro from New Holland, 1772, Öl auf Tafel' sah das Tier eher wie eine große, dünne Ratte aus. Dennoch erinnerte es mich sofort an ein Kunstwerk in der Ausstellung 'REVISIONS' im Rautenstrauch-Joest Museum im Dezember 2023 in Köln in Deutschland, wo die indigene Künstlerin Hilda Nakamarra Rogers in China eine Kopie von Stubbs' Werk in Auftrag gegeben hatte und dann die Figur des Kängurus mit Reihen von bunten Punkten übermalte und damit Stubbs Fantasie verbesserte. Das Original von Stubbs kann in den Sammlungen des National Maritime Museum in London oder hier online betrachtet werden. Das Kunstwerk von Hilda Nakamarra Rogers ist ein künstlerischer Akt der Appropriation. Details stehen auf Seite 6 der Online-Broschüre der 'REVISIONS'-Ausstellung.
In seinem Buch benutzte McLean das Gemälde von Stubbs als McLeans literarische Form der Appropriation, indem er es als erstes Gemälde aus einem grundlegenden (und gänzlich kolonialistischen, daher dem Buch von McLean diametral entgegengesetzten) Kunst-Nachschlagewerk von Bernard Smith zitierte, das 1962 in Melbourne veröffentlicht und im Laufe eines halben Jahrhunderts in vier Auflagen nachgedruckt wurde [5]. Amüsanterweise hatte Smith nicht das Originalgemälde von Stubbs reproduziert, sondern eine schlechte Kopie in Form eines Stichs. McLean erläutert die Geschichte von Stubbs Gemälde, das von dem berühmten Botaniker Joseph Banks in Auftrag gegeben worden war, nachdem Banks mit Kapitän Cook die erste Reise nach Australien unternommen hatte. Es wurde im Atelier des englischen Künstlers Stubbs, der für seine Gemälde von Pferden bekannt war, gemalt, basieren auf von Banks zur Verfügung gestellten Fellen und Skizzen ...
... alles nur, um für die Idee einer britischen Kolonie in Australien zu werben und zu fördern. McLean merkt auf Seite 12 an, dass, als das Kunstwerk 2012 zum Verkauf stand und sowohl das britische National Maritime Museum als auch die National Gallery of Australia Gebote abgaben. Die NGA &bewarb sich um den Besitz mit der Begründung des nationalen Erbes, aber das britische Recht entschied zugunsten [des Maritimen Museums]'
.
Daher finden wir hier in der Geschichte eines einzigen Kunstwerks, des ersten jemals gemalten Bildes eines Kängurus, den Kampf um Kontrolle und Besitz, der für den Kolonialismus absolut zentral ist.
Für weitere Lektüre mit verschiedenen Ansätzen, die sich von denen McLeans unterscheiden, siehe die in [7] aufgeführten Bücher.
Weitere Rezensionen
Rezension von Dr. Darren Jorgensen (University of Western Australia). Siehe https://thesiseleven.com/2023/07/27/book-review-double-nation/
Rezension von Prof. Emerita Catherine Speck (University of Adelaide). Siehe https://aph.org.au/2023/10/book-review-double-nation-a-history-of-australian-art
Referenzen und Fußnoten
[1] McLean, Ian. Double Nation: A History of Australian Art. Reaktion Books, 2023. S. 9. Siehe https://reaktionbooks.co.uk/work/double-nation
[2] McLean, Ian. Rattling Spears. A History of Indigenous Australian Art, Reaktion Books, London 2016, ISBN 9781780235905. Siehe https://reaktionbooks.co.uk/work/rattling-spears
[3] McLean, Ian. Double Nation: A History of Australian Art, Reaktion Books, London 2023. S. 6
[4] Dieser Autor gibt zu, dass der Schuh passt.
[5] Smith, Bernard. Australian Painting 1788-1960, Oxford University Press, Melbourne 2001 [1991]. Siehe Kopie unter https://archive.org/details/australianpainti0000smit
[6] 'Doubled Histories: The Futures of Australian Art', Podiumsdiskussion, Mittwoch, 30. August, 2023. State Library of Western Australia. Berichtet in 'Doubled Histories: The Futures of Australian Art', Dispatch Review, Sonderausgabe, 21. Dezember 2023
[7] Weitere Bücher über australische Kunst: (a) Grishin, S.: Australian Art: A History. Miegunyah, Melbourne 2013.; (b) Sayers, A.: Australian Art, Oxford University Press, London 2001; (c) Smith, Terry, Transformations in Australian art, Craftsman House, Sydney 2002, eine zweibändige Geschichte, bei der sich ein Band auf die kolonialen Themen der Siedler und der andere auf die indigene Kunst konzentriert.